Mittwoch, 3. August 2011

Impressionen aus Marrakesch

Es ist halb fünf. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Der Muezzin ruft zum Gebet. Ein fremdartiger Sprechgesang, an den ich mich in den letzten 13 Monaten gewöhnt habe, weckt mich behutsam. Das erste der fünf täglichen Gebete, die ein gläubiger Moslem zu seinem Herrn betet. Der Muezzin erinnert und ruft auf, von dem Minarett ganz in der Nähe. Leiser hört man die vielen hundert anderen Gebetsrufer von entfernteren Minaretten die Formeln des Koran rufen. Es klingt wie das Rauschen des Meeres, langsam, schäumend, im Sand versickernd, lauter und leiser werdend im Rhythmus, an die Sprechgesänge von Mönchen in Klöstern erinnernd, wie die Gesänge der Mönche in Neuburg, wo ich vor so vielen Jahren für einige Wochen im Benediktinerkloster gelebt hatte und eben solche und ähnliche Gesänge wie das Gurren der Tauben verstand, das mich heute weckt, aber gleichzeitig auch wieder in eine Art Dämmerzustand fallen lässt, in eine Meditation, so wie es von St. Benedikt seinerzeit gewollt gewesen ist. 

Wir haben die letzten Tage des Jahres 1427 nach Mohammed. Die nur wenig roten Häuser in der roten Stadt wirken um diese Zeit erdig braun. Sterne durchbrechen das tiefe Schwarz des Himmels über Afrika. Ich bin müde, drehe mich zum Fenster, es ist noch Nacht für mich. Ich möchte schlafen, weiterschlafen, und der Muezzin hilft mit seinen Worten, mit seiner Melodie, die mich wieder in meine Träume begleiten.

Ausnahmezustand in Marrakesch. Das neue Jahr beginnt, nicht nur für Europa und den Rest der Welt, auch hier in der islamischen Welt, im "Mittelalter“, feiert man den Beginn des neues Jahres, überall in den Seitenstraßen der Neustadt, überall in der Medina, tausende Schafe. Es wird gehandelt und gefeilscht, Größe, Aussehen, Gewicht, ein Schaf für das Fest, ein lebendes Tier, das zuhause geschlachtet wird, zum Neujahrstag. Autos beladen mit Tieren, Kutschen, Fahrräder, Busse, endlose Menschenmassen, alles ist versperrt, überall wird gehupt, keiner kommt weiter, mittelalterliche Gerüche, mittelalterliche Märkte, eine andere Welt, ein Traum offenbar, ich träume oder sind die Autos der Traum, der Wagen, in dem ich mich durch das Gewühl kämpfe, die Motorräder und anderen Fahrzeuge? Bin ich aus eben einem Traum, den wir in Europa träumen und im Schlaf über 630 Jahre zurück gegangen, zuerst mit meinen Gedanken, nun aber auch in Wirklichkeit, zurück in die dritte Königstadt Marokkos, die nach Fez, nach Meknes von jenen Arabern gegründet wurde, die aus Andalusien vertrieben wurden?

Mein Freund Talal, der für die Polizei des Innenministeriums arbeitet, ist sichtlich nervös. Es herrscht Anspannung in der Stadt. Der König kommt aus Rabat, begleitet von einem Scheich aus den Emiraten, Neujahr steht bevor und Hussein ist zum Tode verurteilt worden. "Wenn diese Tage nur ruhig vorbeigehen“, sagt er mehr zu sich als zu mir, telefoniert laufend mit seinem Handy, wird von seinen Vorgesetzten angerufen, gibt Auskunft, alles ist normal, es gibt keine Aufregung, Menschen protestieren nicht wie in anderen Ländern der arabischen Welt, obwohl man Hussein auch hier als Held betrachtet und die Mehrheit seinen Tod als falsch empfindet. Wird es Demonstrationen geben? Werden die Menschen auf der Straße das Neujahrsfest zum Anlass nehmen, zu protestieren gegen die Hinrichtung, gegen die Amerikaner, gegen den Westen und eigentlich und tatsächlich gegen die Umstände, in denen sie leben, die bittere Armut, die Arbeits- und Hoffnungslosigkeit ihrer Jugend, deren Traum es ist, in eben diesen Westen zu ziehen, einmal nur Wohlstand zu erfahren, einmal eine Chance zu bekommen, die sie nie wieder loslassen würden, egal was es kostet?

"Wir sind ein Land der Dritten Welt, aber bei der Sicherheit sind wir in der Ersten“, klärt mich Talal auf, beruhigt er mich, der ich nicht beunruhigt bin, in einem Land, in dem es faktisch keine Morde gibt, keine Entführungen, keine Überfälle oder Einbrüche, so wie ich es aus Deutschland kenne. Er scheint sich langsam zu beruhigen, von mir angesteckt, obwohl er wissen müsste, dass seine Landsleute nicht wirklich aggressiv sind, dass seine Glaubensbrüder nicht kämpfen mögen, nicht gerne streiten, nicht gewalttätig sind, eher sogar ein bisschen feige? Es gilt, sich auf dieses große Fest vorzubereiten, rechtzeitig zu Hause zu sein, die rituelle Schlachtung vorzunehmen, damit die Frauen das große Mahl bereiten können, an dem die ganze Familie zusammensitzt, nicht über Politik spricht, sondern über den Alltag, das Fernsehprogramm, da-rüber, wer gestorben ist und wer ein Kind bekommen hat, manchmal auch über Wünsche und Träume für das neue Jahr, nicht anders eben als im Rest der Welt.

Das Klopfen auf die Motorhaube reißt mich zurück in die Wirklichkeit, in das Jahr 1427. Die Sonne scheint, wie eigentlich fast immer. Der Himmel hat ein underschönes Blau. Behutsam wiegt der Wind die Palmenfächer. Um mich herum zufriedene Gesichter. Kinder spielen auf den Straßen. Männer haben ihre Probleme mit dem Verladen und dem Transport der erworbenen Tiere. Es ist warm. Das schier niemals endende Leben um mich herum befördert mich und meinen Wagen hinaus aus dem Getümmel, auf die Landstraße hinaus, dorthin, wo man immer die Berge sieht, egal wie schnell oder langsam man fährt, den Atlas, der in so vielen Farben lockt, dessen Gipfel mit Schnee bedeckt sind, dessen Weiß sich wunderbar von dem gleichmäßigen Blau des Himmels absetzt. Ausnahmezustand in Marrakesch, weil die Menschen einfach feiern wollen, trotz der Armut, trotz des königlichen Besuches, trotz der Hinrichtung, einfach feiern und an nichts anderes denken wollen als an das familiäre Zusammensein beim Essen und Trinken, und selbst Talal beginnt, sich zu entspannen und lädt mich zu sich und zu seiner Familie nach Hause zum Feiern ein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen