Montag, 11. Juli 2011

Eindrücke aus Marrakesch

Auch heute noch, mitten im Oktober, ist es sehr heiß – 36 Grad im Schatten und kaum Schatten vorhanden. Für die Einheimischen ist es angenehm. Es weht ein leichter Wind, der die Palmenfächer in Bewegung hält und den hauchdünnen Wüstensand aus der nahen Sahara mit sich führt, der die Stadt bedeckt, die Autos, nach und nach alles, was nicht seine Farbe trägt. Ramadan. Keiner isst, keiner trinkt, raucht, kein Sex zwischen Sonnenaufgang und –Untergang. Wer sich nicht daran hält und erwischt wird, bekommt es mit der islamischen Staatsmacht zu tun. Staatsreligion. Selbst hier gibt es Religionswächter und natürlich, wie in all den arabischen Ländern, Denunzianten, Blockwarts, Gassen-Kontrolleure, Spitzel in den Hotels, Bars, Restaurants, Diskotheken, überall. Ein komisches Gefühl im Café, nur Ausländer, bis die Sirenen heulen, jeden Tag etwas früher. Dann ist die Fastenzeit um, alles geht nach Hause, die Straßen leergefegt, kein Araber mehr unterwegs bis nach dem Essen.

Der große Platz ist immer voll. Schlangenbeschwörer unter Schirmen auf dem Boden, Gaukler, die tanzen und musizieren, Saft-Buden in Orange, Wahrsagerinnen in düsteren Gewändern, Geschichten-Erzähler in zerfetzten, schmutzigen Kleidern, umringt von offenen Mündern und staunenden Augen. Weltkulturerbe. Jemaa el Fna. Eigentlich nur für die Touristen. Die Schlangen sind noch lahmer als ihre fastenden Herrn. Sind entzahnt, wie alles hier nur Show. Die Leute auf der Straße werden zunehmend aggressiv, um so länger das Fasten anhält. Unfälle häufen sich. Der Wind trägt die Abgase der schrottreifen Autos durch die Fußgängerzone, die auf den Platz führt. Die Stadt liegt stetig im Smog. Nur dem Geruch der vielen Grills gelingt es, manchem Passanten in den Nasenflügeln zu liegen und die Abgase oder den Geruch der Gullis zu verdrängen, bis die Leute auf den Geschmack gekommen sind, sich an die schmuddeligen Tische setzten und ihre durch Sonnenbrillen verdunkelten Blicke über die verschmierte Karte gleiten lassen.

Zwei Japaner mit Mundschutz. Wirken, als hätten sie ihre Zeitmaschine falsch eingestellt und sind damit versehentlich im Mittelalter gelandet. Alles ganz anders als in Tokio. Nichts ist großartig, nichts besonders, nichts vergleichbar, ganz anders eben als in den wirklich großartigen Städten dieser Welt. Motorräder donnern zwischen den Fußgängern hindurch, völlig rücksichtslos, kein Sozialverhalten, keine Vorsicht, wer nicht beiseite springt, den erwischt es, täglich. Die beiden Japaner mit Mundschutz springen. Leben ist billig in Marokko. Allah, Allah, Allah. Ein Bettler mit einer Schale in der Hand, blind. Der geht hier jeden Tag entlang. Hier sind die Chancen am größten, eine Spende zu erhalten. Hier sind die Ausländer. Marokkaner zahlen sehr selten, teilen eben nicht gern, auch nicht im Ramadan. Er ertastet, was man ihm gibt. Er weiß, dass Allah mich für die Spende belohnen wird, wie jeden Tag, wird er mich Ungläubigen auch heute für meine Gabe belohnen.

Viele Bettler unterwegs. Manche ohne Beine, ohne Arme, blind, manche mit Gestänge in den Gliedmaßen, vernarbten Gesichtern, mit Krücken, ohne Beine auf einem Brett mit Rollen, völlig verschleierte Frauen und ihre Babys zwischen Müll, im Dreck, in den umliegenden Gassen. Viele Kinder auf der Straße, müssen verkaufen, betteln, lügen und betrügen. Hauptsache, sie bringen Geld nach Hause. Fürchterlich. Hübsche Kinder, wenn sie klein sind. Später haben die keine Chance mehr, keine Schule, keine Ausbildung, nur die Straße, nur der Betrug, die Prostitution. Aber zuletzt verdienen manche so mehr als mit ehrlicher Arbeit. Die ist hier nicht gefragt und wird auch nicht gut bezahlt. Geld ist eben alles, möglichst viel und mit wenig Aufwand. Und Prostituierte sind gefragt, bei den Touristen ebenso wie bei den verheirateten Marokkanern.

Der Cafe creme schmeckt nicht schlecht, vermittelt ein bisschen den Geschmack Europas. Leider sind die Tassen immer schmutzig, wie eigentlich so gut wie alles hier. Selbst die 5-Sterne-Hotels machen nicht immer eine Ausnahme. Jeder Kurzbesucher unterliegt dem Charme dieser Stadt, selbst die meisten Journalisten. Wer jedoch seinen Alltag hier fristet, den können die Umstände schon zum Wahnsinn treiben. Afrika. Auch hier ist Afrika. Die Leute mögen das nicht hören. Sie glauben nicht, zu Afrika zu gehören, obwohl die Mentalität die gleiche ist, die Umstände, die Probleme, das System. Nur wer weiß das schon? Kaum einer reist, selbst im eigenen Land nicht. Noch weniger lesen.

Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Alles ist in Bewegung, nur sie scheint stehen zu bleiben, mich zu belagern, mich, meine Rastlosigkeit. Sie entführt meine Gedanken, hin zu den Buden und Geschäften, wo sie sich zwischen den asiatischen Billig-Produkten oder einfachen Souvenirs verliert. Sie lässt meine Augen an den Passanten haften und sie mit ihnen ziehen. Sie weckt Assoziationen und verwirft. Entspanne ich oder bin ich einfach nur erschöpft? Ist das alles ein interessanter Traum oder bittere Wirklichkeit? Der Muezzin ruft zum Gebet, gleich folgen die Sirenen. Die Fastenzeit neigt sich dem Ende. Die Stadt räumt sich. L’addition, s’il vous plait.

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